Zum EuGH-Urteil über den Google-Index und das Recht auf Vergessenwerden

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in den vergangenen Jahren viele wegweisende Urteile gefällt. Die Entscheidung in Sachen Google Spain SL vs. Mario Costeja González ist aber ein ganz besonderer Paukenschlag. Das Urteil wird sicher Einfluss auf die Arbeit von SEOs, jedenfalls aber den vielen Reputationmanagern haben. Im Kern hat der EuGH entschieden, dass Google unter Umständen Suchergebnisse löschen muss, obwohl sich die Quelle legitimer Weise im Netz befindet.

Alte Sünden bei Google
Wenn der Spanier Mario Costeja González seinen Namen bei google.es eingab, erschien relativ prominent ein Link zur Ausgabe vom 19.1.1998 der insbesondere in Katalonien weitverbreiteten Tageszeitung La Vanguardia, die seinen Namen enthält. Auf der verlinkten Seite findet sich eine amtliche Anzeige, in der auf die Versteigerung eines Grundstücks im Zusammenhang mit einer wegen Forderungen der Sozialversicherung erfolgten Pfändung bei Herrn González hingewiesen wurde.

Den Spanier störte, dass diese Bekanntmachung noch über ein Jahrzehnt später im Netz auffindbar war. Im Jahre 2010 erhob er eine Beschwerde bei der spanischen Datenschutzbehörde AEPD mit dem Ziel, einerseits La Vanguardia und andererseits Google zu verpflichten, die Einträge zu löschen oder zu verbergen. Die Pfändung sei seit Jahren vollständig erledigt und verdiene keine Erwähnung mehr.

Die AEPD kam zu einem interessanten Ergebnis: Die Beschwerde gegen die Tageszeitung sei unbegründet, weil die Veröffentlichung der Informationen aufgrund gesetzlicher Anordnung geschah. Ziel sei eine höchstmögliche Publizität der Zwangsversteigerung und somit einer höchstmöglichen Zahl an Bietern. Dagegen hatte die Beschwerde gegen Google Erfolg.

Der Suchmaschinenbetreiber nehme eine eigene Datenverarbeitung vor. Durch die Zusammenstellung der Daten bei der Suche nach seinem Namen sei das Grundrecht auf Datenschutz und die Würde von Herrn Gonzales beeinträchtigt. Der Spanier habe das Recht, dass Dritte nicht über Google diese Informationen finden könnten.

EuGH: Google muss löschen!
Gegen die Entscheidung der Datenschutzbehörde ging Google bis zum Europäischen Gerichtshof vor. Und verlor.

Das Gericht schloss sich der spanischen Behörde an und befand nach langen Ausführungen über die Unannehmlichkeiten, die mit einer Google-Suche verbunden sein können, dass Google zur Löschung verpflichtet sein kann, auch wenn die Quelle rechtmäßig ist. Der EuGH nennt dies selbst das Recht einer Person, dass bestimmte im Internet erreichbare Informationen nach einer gewissen Zeit „vergessen“ werden müssen. Der Gerichtshof stellt fest, dass die in der Ergebnisliste enthaltenen Informationen und Links gelöscht werden müssen, wenn auf Antrag der betroffenen Person festgestellt wird, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Einbeziehung der Links in die Ergebnisliste nicht mit der EU-Datenschutzrichtlinie vereinbar ist. Selbst wenn die Veröffentlichung der Daten ursprünglich rechtmäßig war, könne die fortdauernde Veröffentlichung im Laufe der Zeit nicht mehr mit dem Datenschutzrecht vereinbar sein.

Der EuGH sieht Google dabei in einer besonderen Position, zum einen als Daten verarbeitende Stelle und zum anderen quasi als eigenständiger Veröffentlicher der Daten. Googles Ergebnislisten böten nämlich einen strukturierten Überblick über die zu der betreffenden Person im Internet zu findenden Informationen. Diese beträfen potenziell zahlreiche Aspekte von deren Privatleben und wären angeblich ohne die Suchmaschine nicht oder nur sehr schwer zu finden. Letztlich biete Google ein detailliertes Personenprofil.

Auch die Tatsache, dass der Betreiber der primären Quelle, also der Website, auf der die Informationen gespeichert sind, es in der Hand haben „mit Hilfe von Ausschlussprotokollen wie „robot.txt“ oder Codes wie „noindex“ oder „noarchive“ zu signalisieren, dass eine bestimmte auf ihrer Website veröffentlichte Information ganz oder teilweise von den automatischen Indexen der Suchmaschinen ausgeschlossen werden soll“ lässt der EuGH nicht gelten. Die Suchmaschine sei in der Verantwortung, Inhalte, deren Auffindbarkeit Persönlichkeitsrechte verletzen können, aus dem Index zu nehmen.

Persönlichkeitsrechte vs. Informationsinteresse
Dass der spanische Kläger jegliche Erinnerung an die Zwangsversteigerung tilgen wollte, ist mehr als verständlich. Für heutige Geschäftspartner mag es jedoch durchaus noch von Interesse sein, von den vergangenen Schwierigkeiten zu erfahren. Dies zeigt die Gemengelage, der sich der Gerichtshof nur unzureichend gestellt hat.

Die Luxemburger Richter geben nämlich den Persönlichkeitsrechten des Einzelnen grundsätzlich den Vorrang gegenüber dem durchaus vorhandenen Informationsinteressen aller anderen. Nur „in besonders gelagerten Fällen“ soll das Recht auf Zugang zu vorhandenen Informationen gegenüber der Privatsphäre überwiegen.

Abwägung in jedem Einzelfall
Ein solches Postulat von Europas oberstem Gericht ist ein deutliches Zeichen für den Datenschutz. Es ist aber auch ein deutliches Zeichen gegen die Freiheit, sich zu informieren. Es ging nicht um besonders sensible Daten, sondern einen Link auf eine staatlich anerkannte, legale Quelle. Hier ein grundsätzliches Überwiegen des Privatinteresses zu postulieren, ist mindestens überraschend.

Die Meinungs-, Kommunikations- und Informationsfreiheit kommt in dem gesamten Urteil überhaupt nur ganz am Rande vor.

Kann nun jeder unliebsame Informationen über sich löschen lassen? Der EuGH verlangt eine Abwägung in jedem Einzelfall. Diese Abwägung habe der Suchmaschinenbetreiber vorzunehmen und dabei unter anderem zu prüfen:

  • ob die Person ein Recht darauf hat, dass die betreffenden Informationen über sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr bei der Suche nach seinem Namen erscheinen
  • ob besondere Gründe vorliegen, die ein überwiegendes Interesse der breiten Öffentlichkeit am Zugang zu diesen Informationen über eine solche Suche rechtfertigen

Letzteres soll insbesondere bei öffentlich bekannten Personen in Betracht kommen. Mit sonstigen Einzelheiten lässt der EuGH alle Betroffenen allein und legt damit die Frage von Löschen oder Nichtlöschen vor allem in Hände von Google.

Google als Informationsfilter
Google wird damit unfreiwillig in die Rolle einer zentralen Anlaufstelle gedrängt, wenn es um die Unterdrückung von Informationen jedweder Art geht. Für Google ist die Situation eine Gratwanderung. Ein stetiger Strom von Löschanfragen (allein über 40.000 in den ersten Tagen nach Veröffentlichung eines entsprechenden Formulars) wird Google nicht erspart bleiben. Aus Sicht der Suchenden ist zu hoffen, dass Google nicht den bequemsten Weg gehen und „im Zweifel“ löschen wird. Im Unterschied zum Einzelnen hat die Öffentlichkeit jedoch kein Klagerecht – einen Anspruch auf ein vollständiges Bild zu einem Suchbegriff gibt es nicht.

Das Löschformular
Google hat auf das EuGH-Urteil natürlich reagieren müssen und zur Kanalisierung der unzähligen Anfragen ein Online-Formular zur Einreichung von Löschanträgen bereit gestellt und angekündigt, mit den Datenschutzbehörden kooperieren zu wollen. Eine entsprechende Einladung der europäischen Datenschützer an die Suchmaschinenbetreiber ist bereits ergangen.

Es gibt keinen Zwang, das Google-Formular zu verwenden. Auf welchem Weg es schneller geht, ist nicht bekannt.

Natürlich kündigt Google an, jeden Antrag einzeln zu prüfen und zwischen den Datenschutzrechten des Einzelnen und dem Recht der Öffentlichkeit auf Auskunft und Informationsweitergabe abzuwägen. Geprüft werde

  • ob die Suchergebnisse veraltete Informationen enthalten
  • ob ein öffentliches Interesse an den beanstandeten Informationen besteht
  • ob zum Beispiel wirtschaftliche Betrugsfälle, Berufsvergehen oder Amtsmissbrauch vorliegen
  • ob es zum Beispiel um strafrechtliche Verurteilungen oder das öffentliche Verhalten von Regierungsbeamten geht.

Die schlussendlich maßgeblichen Kriterien dafür veröffentlicht Google natürlich nicht. Dafür besteht zunächst auch Anlass. Google wird sich nicht ohne Not einer Prozesslawine aussetzen wollen.

Man darf gespannt sein, wie die Abwägung ausfallen wird. Erste Ergebnisse lassen befürchten, dass Google eher denjenigen nachgeben wird, die mit großem Druck und anwaltlicher Hilfe ihre vermeintlichen Löschungsansprüche versuchen durchzusetzen. Eine Auswahlmöglichkeit „Anwalt“ gibt es schon einmal und viele Persönlichkeitsrechtler frohlocken, seit das EuGH-Urteil in der Welt ist.

Um Missbrauch zu verhindern, verlangt Google „eine lesbare Kopie eines Sie identifizierenden Dokuments“. Die etwas kryptische Formulierung hat seinen Hintergrund darin, dass es Google nach dem Personalausweisgesetz verboten ist, Ausweiskopien zur Identifikation zu verlangen.

Wer von unliebsamen Einträgen betroffen ist, sollte sorgfältig begründen, warum ihn die Verlinkung in seinen Rechten verletzt. Dabei mag es helfen, wenn bereits vergeblich versucht wurde, die Originalquelle zu löschen. Natürlich lassen sich klar rechtswidrige Einträge leichter de-indizieren, als wahre Einträge, die dem Antragsteller nur nicht gefallen.

Kritik an der Umsetzung des Urteils durch Google
Derzeit integriert Google bei jeder Namenssuche folgenden Hinweis:

„Einige Ergebnisse wurden möglicherweise aufgrund der Bestimmungen des europäischen Datenschutzrechts entfernt. Weitere Informationen

Dies wird zum Teil als Panikmache kritisiert, weil Google mit der Angst der Nutzer vor Zensur spiele. Dagegen scheint es konsequent, dass Google – wie bei der Entfernung vno Suchergebnissen wegen Urheberrechtsverletzungen – kenntlich macht, ob gelöscht wurde. Der Nutzer soll wissen, ob der vollständige Index angezeigt wird. Dass diese Einblendung nicht ausschließlich bei den Namen angezeigt wird, bei denen tatsächlich Löschungen vorgenommen wurden, müsste den Datenschützern gefallen. Anderenfalls verführt der – dann spezielle Hinweis gerade dazu, auf google.com den vollständigen Index zu durchsuchen.

Fazit – Durchsetzung der Privatsphäre oder Zensur?
Es bleibt zu hoffen, dass Google mit den Löschanträgen eher zurückhaltend umgeht und nur in krassen Fällen löscht. Wenn jeder windige Kapitalanlageberater seine Vita frisieren und jedes Unternehmer schlechte Bewertungen deindexieren kann, verliert Google auch offiziell den Schein der Objektivität.

Für SEOs heißt das Urteil die Erweiterung des Portfolios um eine weitere Disziplin: Löschanträge stellen für unliebsame Einträge. Wie absurd das Urteil bei genauerer Betrachtung ist, lässt sich übrigens ersehen, wenn man den Namen des Kläger googelt: Neun der ersten zehn Einträge befassen sich mit einem EuGH-Urteil, in dem ein Spanier verhindern möchte, dass die Öffentlichkeit Zugang zu der Information erhält, dass sein Grundstück einst einem Zwangsvollstreckungsverfahren unterworfen war. Der 10. Eintrag ist der Link zu der Original-Fundstelle. Und wahrscheinlich kann sich Google inzwischen auch ungeachtet (ja sogar angesichts) der EuGH-Entscheidung darauf berufen, dass die Öffentlichkeit ein erhebliches Interesse an der Originalquelle habe…

Geringfügig überarbeitete Version eines im Suchradar erschienenen Artikels.